http://www.aerzteblatt.de/archiv/167105/Perinatalmedizinische-Versorgung-Maximale-Sicherheit-fuer-Mutter-und-Kind-anstreben
http://www.aerzteblatt.de/archiv/167108/Interview-mit-Prof-Dr-med-Gernot-H-G-Sinnecker-Chefarzt-der-Klinik-fuer-Kinder-und-Jugendmedizin-Klinikum-Wolfsburg-Die-Daten-sind-nicht-direkt-miteinander-vergleichbar
Hier der komplette, recht lange Leserbrief.
Sehr geehrte Damen und Herren,
zu dem Artikel „Perinatalmedizinische
Versorgung: Maximale Sicherheit für Mutter und Kind anstreben“ und
dem anschließenden Interview mit Herrn Prof. Dr.med. Gernot H.G.
Sinnecker möchte ich einige wichtige Punkte anfügen, denn beide
Seiten bleiben in wesentlichen Punkten unscharf.
Zum einen mutet es etwas einseitig an,
das (fraglich) bessere Outcome der Schweden und Finnen allein an den
großen Geburtszentren festzumachen. Denn gerade in Schweden und
Finnland ist das Gesundheitssystem rein strukturell ein anderes als
in Deutschland, wie in dem Artikel angedeutet, und erst recht die
Geburtshilfe:
In Schweden werden Schwangere von
Anfang an von Hebammen betreut, Ärzte werden nur bei Komplikationen
in Schwangerschaft oder unter Geburt hinzugezogen, und auch die
Nachsorge wird von Hebammen geleistet. Zudem ist eine 1:1-Betreuung
durch eine Hebamme unter der Geburt die Regel, was in Deutschland bei
weitem nicht der Fall ist.
Es kommen also weitere Faktoren hinzu,
die eine bessere Betreuung während Schwangerschaft und Geburt zur
Folge haben und Einfluss nehmen auf die niedrigere Zahl an
Frühgeburten und geringeren Anzahl an Kindern mit geringem
Geburtsgewicht.1
Wollte man also einen vernünftigen
Vergleich ziehen, müsste man ein Land heranziehen, in dem ein vom
Grundgedanken ähnliches Gesundheitssystem vorliegt und in dem in
erster Linie große Geburtszentren vorhanden sind.
Ein solches Land gibt es, von diesem
Land haben wir DRG gelernt: die USA. Sicher gibt es einige
Unterschiede im System. Der Grundsatz vom Krankenhaus, das Geld
erwirtschaftet, ist dort noch stärker ausgeprägt als bei uns, und
das Versicherungssystem ist ein anderes als hier.
Aber die Geburtshilfe ist ähnlich
strukturiert wie hier: Schwangere gehen in erster Linie zu Ärzten
zur Vorsorge. In den Kliniken wird Geburtsmedizin betrieben, so wie
es bei uns in vielen Kliniken, insbesondere jedoch in vielen großen
Zentren zu beobachten ist:
Viele Einleitungen, viele
Kaiserschnitte, wenige bis gar keine Geburten ohne medizinische
Intervention. Kaum mehr Hebammenkunst. (Da steuern wir gerade hin,
wenn die Politik sich nicht bald etwas einfallen lässt bezüglich
der Haftpflichtproblematik.)
Keine 1:1-Betreuung unter Geburt. Keine
geregelte Nachbetreuung. (Dieses Problem wird in D gerade jeden Tag
größer.)
In den USA ist das Ergebnis verheerend:
Die Müttersterblichkeit lag in den USA 2011 bei 17,8/100.000
Lebendgeborenen2
und der Trend geht weiter nach oben (!), die Säuglingssterblichkeit
lag 2010 bei 6,5/1.000 Lebendgeborenen im 1. Jahr3.
Sicherlich spielen hier gesellschaftliche Probleme eine Rolle, denn
die Zahlen sind für Afroamerikaner deutlich höher. Dennoch: wir
sprechen hier von einem medizinisch hoch entwickelten Land, das sich
die höchste Mütter- und Säuglingssterblichkeitsrate in der
westlichen Hemisphäre leistet, trotz technisierter, teurer, in
großen Zentren beheimateter Geburtsmedizin.
Zum Anderen möchte ich auf das
Interview mit Herrn Prof. Sinnecker eingehen. Dabei ist mir vor allem
der letzte Satz des Interviews sehr ins Auge gefallen. Herr Prof.
Sinnecker sagt hier: „Dass sie trotz ihrer weit
auseinanderliegenden Zentren so gute Ergebnisse haben, dazu kann man
sie nur beglückwünschen.“
Diesen Satz kann man einfach nicht so
stehen lassen, denn das geht an meinem ärztlichen Selbstverständnis
vorbei:
Nehmen wir an, dass sich die Kernzahlen
zu Mütter- und Säuglingssterblichkeit nach Äquivalenz-rechnungen
und so weiter in Schweden, Finnland und Deutschland ähneln. Dann ist
nachzufragen, wie die Finnen und Schweden trotz weniger großer
Zentren so gute Ergebnisse erzielen. Denn ich glaube nicht, dass dies
allein dem Glück geschuldet ist!
Zudem bleiben ein paar andere Zahlen,
die man erst recht nicht einfach mit „Glück gehabt“ erreicht:
Da ist die Kaiserschnittrate, die halb so hoch ist wie in Deutschland
sowie der deutlich geringere Anteil an Kindern mit Geburtsgewicht
unter 2500g und Frühchen. Hier können und müssen wir sehen, was
wir verbessern können, denn Frühchen haben nicht selten
lebenslänglich mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen. Wenn wir
diesen Bereich dem „Glück allein“ überlassen, dann ist das ein
echtes Armutszeugnis!
Die Versorgung von Frühgeborenen ist
in Deutschland insgesamt nicht zu bemängeln. Diese Kinder sind sehr
wahrscheinlich in großen Zentren besser aufgehoben. Das ist aber
kein Argument, nun alle Geburten in große Zentren zu verlegen. Denn:
Wo bleibt ein Ansatz zur Prävention von Früh-geburten und Kindern
mit geringem Geburtsgewicht? Hier können wir von den Schweden und
Finnen etwas lernen. Ich denke, dass die gute Hebammenversorgung ein
wichtiger Faktor
ist. Da haben wir noch viel Nachholbedarf
Dasselbe gilt für die viel zu hohe
Kaiserschnitt-Rate in Deutschland: Inzwischen häufen sich die
Hinweise auf die potentiellen lebenslangen Nachteile für die Kinder
(z.B. erhöhte Inzidenz für Autoimmunerkrankungen). Spätestens
jetzt müssen wir hier gegensteuern.
Eine 1:1-Betreuung bei jeder Geburt
durch eine qualifizierte Hebamme und die gleiche Bezahlung von
vaginaler Geburt und Sectio wären da ein erster Schritt in die
richtige Richtung. Ich finde es ohnehin bizarr, dass ein 15minütiger
Eingriff deutlich besser bezahlt wird als die stundenlange Begleitung
einer Frau unter Geburt, die Einfühlungsvermögen und
Personalressourcen voraussetzt.
Insgesamt sollten wir uns ansehen,
welche Bereiche verbesserungswürdig sind, und hier ist die Arbeit
von Rossi et al. hilfreich: Der Anteil der Kaiserschnitte und
Frühgeborenen sowie der Kinder mit geringem Geburtsgewicht ist in
Finnland und Schweden deutlich niedriger. Da sollten wir nachziehen.
Große Zentren werden dabei nicht
hilfreich sein, sondern eine wohnortnahe hebammengeleitete
Geburtshilfe. Das ist es, was wir vom positiven Beispiel der Schweden
und Finnen sowie von der völlig fehlgeleiteten Geburtsmedizin in den
USA lernen können.
1The
Cochraine Library, DOI: 10.1002/14651858.CD004667.pub3
2http://www.cdc.gov/reproductivehealth/MaternalInfantHealth/PMSS.html
3http://de.statista.com/statistik/daten/studie/18784/umfrage/saeuglingssterblichkeit-in-den-usa/
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