Freitag, 13. Februar 2015

Neuer Leserbrief, hier vollständig, im DÄ in Auszügen

Zu diesen beiden Artikeln habe ich einen Leserbrief verfasst:

http://www.aerzteblatt.de/archiv/167105/Perinatalmedizinische-Versorgung-Maximale-Sicherheit-fuer-Mutter-und-Kind-anstreben

http://www.aerzteblatt.de/archiv/167108/Interview-mit-Prof-Dr-med-Gernot-H-G-Sinnecker-Chefarzt-der-Klinik-fuer-Kinder-und-Jugendmedizin-Klinikum-Wolfsburg-Die-Daten-sind-nicht-direkt-miteinander-vergleichbar

Hier der komplette, recht lange Leserbrief.

Sehr geehrte Damen und Herren,

zu dem Artikel „Perinatalmedizinische Versorgung: Maximale Sicherheit für Mutter und Kind anstreben“ und dem anschließenden Interview mit Herrn Prof. Dr.med. Gernot H.G. Sinnecker möchte ich einige wichtige Punkte anfügen, denn beide Seiten bleiben in wesentlichen Punkten unscharf.
Zum einen mutet es etwas einseitig an, das (fraglich) bessere Outcome der Schweden und Finnen allein an den großen Geburtszentren festzumachen. Denn gerade in Schweden und Finnland ist das Gesundheitssystem rein strukturell ein anderes als in Deutschland, wie in dem Artikel angedeutet, und erst recht die Geburtshilfe:
In Schweden werden Schwangere von Anfang an von Hebammen betreut, Ärzte werden nur bei Komplikationen in Schwangerschaft oder unter Geburt hinzugezogen, und auch die Nachsorge wird von Hebammen geleistet. Zudem ist eine 1:1-Betreuung durch eine Hebamme unter der Geburt die Regel, was in Deutschland bei weitem nicht der Fall ist.
Es kommen also weitere Faktoren hinzu, die eine bessere Betreuung während Schwangerschaft und Geburt zur Folge haben und Einfluss nehmen auf die niedrigere Zahl an Frühgeburten und geringeren Anzahl an Kindern mit geringem Geburtsgewicht.1

Wollte man also einen vernünftigen Vergleich ziehen, müsste man ein Land heranziehen, in dem ein vom Grundgedanken ähnliches Gesundheitssystem vorliegt und in dem in erster Linie große Geburtszentren vorhanden sind.
Ein solches Land gibt es, von diesem Land haben wir DRG gelernt: die USA. Sicher gibt es einige Unterschiede im System. Der Grundsatz vom Krankenhaus, das Geld erwirtschaftet, ist dort noch stärker ausgeprägt als bei uns, und das Versicherungssystem ist ein anderes als hier.
Aber die Geburtshilfe ist ähnlich strukturiert wie hier: Schwangere gehen in erster Linie zu Ärzten zur Vorsorge. In den Kliniken wird Geburtsmedizin betrieben, so wie es bei uns in vielen Kliniken, insbesondere jedoch in vielen großen Zentren zu beobachten ist:
Viele Einleitungen, viele Kaiserschnitte, wenige bis gar keine Geburten ohne medizinische Intervention. Kaum mehr Hebammenkunst. (Da steuern wir gerade hin, wenn die Politik sich nicht bald etwas einfallen lässt bezüglich der Haftpflichtproblematik.)
Keine 1:1-Betreuung unter Geburt. Keine geregelte Nachbetreuung. (Dieses Problem wird in D gerade jeden Tag größer.)

In den USA ist das Ergebnis verheerend: Die Müttersterblichkeit lag in den USA 2011 bei 17,8/100.000 Lebendgeborenen2 und der Trend geht weiter nach oben (!), die Säuglingssterblichkeit lag 2010 bei 6,5/1.000 Lebendgeborenen im 1. Jahr3. Sicherlich spielen hier gesellschaftliche Probleme eine Rolle, denn die Zahlen sind für Afroamerikaner deutlich höher. Dennoch: wir sprechen hier von einem medizinisch hoch entwickelten Land, das sich die höchste Mütter- und Säuglingssterblichkeitsrate in der westlichen Hemisphäre leistet, trotz technisierter, teurer, in großen Zentren beheimateter Geburtsmedizin.

Zum Anderen möchte ich auf das Interview mit Herrn Prof. Sinnecker eingehen. Dabei ist mir vor allem der letzte Satz des Interviews sehr ins Auge gefallen. Herr Prof. Sinnecker sagt hier: „Dass sie trotz ihrer weit auseinanderliegenden Zentren so gute Ergebnisse haben, dazu kann man sie nur beglückwünschen.“
Diesen Satz kann man einfach nicht so stehen lassen, denn das geht an meinem ärztlichen Selbstverständnis vorbei:
Nehmen wir an, dass sich die Kernzahlen zu Mütter- und Säuglingssterblichkeit nach Äquivalenz-rechnungen und so weiter in Schweden, Finnland und Deutschland ähneln. Dann ist nachzufragen, wie die Finnen und Schweden trotz weniger großer Zentren so gute Ergebnisse erzielen. Denn ich glaube nicht, dass dies allein dem Glück geschuldet ist!

Zudem bleiben ein paar andere Zahlen, die man erst recht nicht einfach mit „Glück gehabt“ erreicht: Da ist die Kaiserschnittrate, die halb so hoch ist wie in Deutschland sowie der deutlich geringere Anteil an Kindern mit Geburtsgewicht unter 2500g und Frühchen. Hier können und müssen wir sehen, was wir verbessern können, denn Frühchen haben nicht selten lebenslänglich mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen. Wenn wir diesen Bereich dem „Glück allein“ überlassen, dann ist das ein echtes Armutszeugnis!
Die Versorgung von Frühgeborenen ist in Deutschland insgesamt nicht zu bemängeln. Diese Kinder sind sehr wahrscheinlich in großen Zentren besser aufgehoben. Das ist aber kein Argument, nun alle Geburten in große Zentren zu verlegen. Denn: Wo bleibt ein Ansatz zur Prävention von Früh-geburten und Kindern mit geringem Geburtsgewicht? Hier können wir von den Schweden und Finnen etwas lernen. Ich denke, dass die gute Hebammenversorgung ein wichtiger Faktor
ist. Da haben wir noch viel Nachholbedarf

Dasselbe gilt für die viel zu hohe Kaiserschnitt-Rate in Deutschland: Inzwischen häufen sich die Hinweise auf die potentiellen lebenslangen Nachteile für die Kinder (z.B. erhöhte Inzidenz für Autoimmunerkrankungen). Spätestens jetzt müssen wir hier gegensteuern.
Eine 1:1-Betreuung bei jeder Geburt durch eine qualifizierte Hebamme und die gleiche Bezahlung von vaginaler Geburt und Sectio wären da ein erster Schritt in die richtige Richtung. Ich finde es ohnehin bizarr, dass ein 15minütiger Eingriff deutlich besser bezahlt wird als die stundenlange Begleitung einer Frau unter Geburt, die Einfühlungsvermögen und Personalressourcen voraussetzt.

Insgesamt sollten wir uns ansehen, welche Bereiche verbesserungswürdig sind, und hier ist die Arbeit von Rossi et al. hilfreich: Der Anteil der Kaiserschnitte und Frühgeborenen sowie der Kinder mit geringem Geburtsgewicht ist in Finnland und Schweden deutlich niedriger. Da sollten wir nachziehen.
Große Zentren werden dabei nicht hilfreich sein, sondern eine wohnortnahe hebammengeleitete Geburtshilfe. Das ist es, was wir vom positiven Beispiel der Schweden und Finnen sowie von der völlig fehlgeleiteten Geburtsmedizin in den USA lernen können.

1The Cochraine Library, DOI: 10.1002/14651858.CD004667.pub3
2http://www.cdc.gov/reproductivehealth/MaternalInfantHealth/PMSS.html
3http://de.statista.com/statistik/daten/studie/18784/umfrage/saeuglingssterblichkeit-in-den-usa/

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