Samstag, 9. April 2022

Wertlose Gesellschaft.

 Diesen Text habe ich schon vor längerer Zeit geschrieben, noch vor Corona. Heute müssten wir noch ganz andere Themen diskutieren und tun es wieder nicht. Wenn wir nicht anfangen, als Gesellschaft über unsere Werte zu sprechen und Konsens herzustellen, wird die Gesellschaft weiter auseinander brechen. Das ist zumindest meine Meinung.

 

Schon seit einiger Zeit beschäftigen mich mehrere entgegengesetzte Bewegungen und an sich nicht miteinander zu vereinbarende Ansichten zu Frauenrechten, Schwangerschaft und Abtreibung.
Ich möchte hier zunächst eine Bestandsaufnahme machen.

Auf der einen Seite wird in Deutschland jede 10. (ca.) Schwangerschaft abgebrochen.
Auf der anderen Seite gibt es Eltern, die sich so verzweifelt ein Kind wünschen, dass sie den
Weg der Leihmutterschaft im Ausland gehen.
Auf der einen Seite stehen immer mehr Menschen mit Down-Syndrom, die auf sich aufmerksam
machen und sagen: "Ich will leben! Mein Leben ist lebenswert und kostbar! Ich bin anders, oder
ihr seid anders, das ist eine Frage des Standpunktes."
Auf der anderen Seite beenden 90% der Frauen die Schwangerschaft, wenn die Diagnose für das Kind "Down Syndrom" lautet.
Auf der einen Seite stehen Frauen mit sehr schwierigen sozialen Umständen, die sich dessen bewusst sind, dass die Verantwortung für ein Kind für sie zu groß ist, die aber ungewollt schwanger geworden sind.
Auf der anderen Seite boomt die Reproduktionsmedizin. Es gibt immer mehr Frauen, die sich jenseits des 40. Lebensjahres ein Kind wünschen und alle zur Verfügung stehenden Mittel nutzen, teilweise unter Aufwendung erheblicher finanzieller Mittel.

Auf der einen Seite stehen Frauen, die nicht die nötigen finanziellen Mittel für eine konsequente Verhütung aufbringen können.
Auf der anderen Seite stehen Frauen, die nicht mehr jeden Monat Hormone schlucken wollen und
Alternativen suchen.

Auf der einen Seite stehen Männer, die Angst vor der Verantwortung haben
und sich Kinder nicht zutrauen.
Auf der anderen Seite stehen homosexuell lebende Männer, die gerne Kinder hätten.

Auf der einen Seite stehen politische Bewegungen in Europa, die beginnen, den Mutterleib (wieder) zu instrumentalisieren und Frauen ihre Verantwortung und ihr Selbstbestimmungsrecht absprechen
wollen. Sie benutzen die Abtreibungsdebatte zu ihren patriarchalen machtpolitischen Zwecken. Sie schieben die Moral vor, um Frauen kleinzuhalten.
Auf der anderen Seite stehen Frauen wie Fr. Hänel, die sich wehren und ihr Selbstbestimmungsrecht
vehement einfordern.

Es ist wie mit einem Brennglas: einerseits fallen die Strahlen von immer weiter entfernten Standpunkten ein, andererseits verdichtet sich alles zu einem Punkt, zu einer Frage, die die Gesellschaft angehen und beanworten muss.
Wir leben in einer stark individualistisch geprägten Gesellschaft. Das Gemeinwesen darf gerne herangezogen werden, wenn das Individuum Unterstützung benötigt. Aber das Gemeinwesen soll
sehr ökonomisch orientiert sein. Und irgendwie moralisch einwandfrei. Und zwar für alle genannten Seiten. Sowohl die Feministen als auch die Abtreibungsgegner wollen ihren Wertekanon durchsetzen bzw. sich wohlfühlen in unserer Gesellschaft. Aber auch Menschen mit Down-Syndrom und deren Eltern, ebenso wie sozial Abgehängte, Alleinerziehende, Frauen, die sich alleine durch das Leben kämpfen müssen, Homosexuelle, ungewollt Kinderlose, DINKIs (Double Income, No Kids).

Wir fragen nicht mehr nach dem tieferen Sinn für eine Gesellschaft, sondern nur noch nach dem Nutzen für den Einzelnen. Die sozialen Strukturen atomisieren sich. Was geht mich der andere an? Was gehen mich seine Sorgen, Nöte und Probleme an? Da kann sich doch der Staat/die Ärztin/das Gesundheitssystem/das Sozialsystem kümmern, geht mich doch nichts an.
Und niemand hat das Recht, Wertmaßstäbe aufzustellen. Denn diese Wertmaßstäbe muss jeder für sich definieren und finden.

Was geschieht mit einer Gesellschaft, die immer weniger gemeinsame Werte hat und deren Wertmaßstäbe sich immer weiter voneinander entfernen? Wir müssen ins Gespräch kommen, was für eine Gesellschaft wir wollen. Und ob der absolute Individualismus gerechtfertigt ist.
Jede Gesellschaft braucht einen für sie gültigen moralischen Kompass, auf den sich die Menschen verlassen können. Denn wenn es diese Richtungsweisung nicht mehr gibt, entstehen Gruppen, die für sich in Anspruch nehmen, die Richtung des Kompasses zu kennen.

Welche Werte müssten wir verhandeln?
Müssen wir neu über den Wert eines Menschenlebens sprechen?
Wie können wir die immer größer werdenden Unterschiede in der Gesellschaft überbrücken, wie können wir die Gesellschaft wieder zusammenbringen?
Müssen wir neu über die Verantwortung jedes einzelnen als Teil dieser Gesellschaft sprechen?
Müssen wir über die Verantwortung der Wohlhabenden gegenüber den Armen sprechen?
Oft begegnet einem hier Doppelmoral: einige Reiche, aber auch einige Großkonzerne tun alles, um möglichst wenig Steuern zu bezahlen. Aber wenn es um soziale Ungleichheit geht, sehen sie lediglich den Staat in der Pflicht, zu handeln, der Staat, den sie um viel Geld betrügen. Einerseits werden Subventionen und staatliche Zuschüsse gerne angenommen. Andererseits lehnt man jegliche Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft rundweg ab. Jeder steht für sich, der Individualismus steht über allem, und so richten wir uns zugrunde. 

Kein Mensch ist eine Insel, wie John Donne schon im 17. Jhd. sagte.

Wie könnte das aussehen?
Am Beispiel des Abtreibungs-Themas:
Vielleicht können wir uns darauf einigen, dass es grundsätzlich falsch ist, wenn eine Frau, aus welchen Gründen auch immer, in eine Situation kommt, in der eine Abtreibung die einzige für sie denkbare Lösung ist. Ich denke, auch Feministen würden mir zustimmen, dass es dieses Problem in einer idealisierten Welt nicht gäbe. Was aber führt in dieses Dilemma? Warum treiben Frauen ab? Gibt es dazu Studien?
Gibt es Ideen, wie wir Frauen helfen können, nicht in diese Problematik hineinzugeraten? Denn hier werden mir die Abtreibungsgegner zustimmen: in einer idealen Welt käme es keiner Frau in den Sinn, abzutreiben. Sie hätte keinen Grund dafür.

Was sind Gründe für Abtreibungen?

Ungewollte Schwangerschaften wird es immer geben, die beste Verhütung ist nicht 100%ig.
Es ist ziemlich billig zu sagen, die Frauen "sollten halt vernünftig verhüten", denn es gibt keine Garantien. (Und soweit ich weiß, haben Männer auch einen Anteil an der Verhütung!)
 

Kostenlose Verhütungsmittel wären jedoch für einige Frauen schon die Lösung des Problems. Dazu gehört meiner Meinung nach auch, dass Jungen und Männer umfassend aufgeklärt werden und ihre Verantwortung deutlich wird.


 Andererseits ist eine ungewollte Schwangerschaft etwas, das unsere Gesellschaft nicht mehr duldet, nicht zulässt: eine Überraschung, die mit sehr viel Verantwortung verbunden ist. Ich denke, hier ist auch schon ein Teil des Problems: Oft genug wird die Frau mit dieser Verantwortung allein gelassen, obwohl zur Zeugung zwei gehören. Das heißt, es ist in der Tat ein zutiefst feministisches Problem. Wenn Frauen wüssten, dass der Vater des Kindes die Hälfte der Verantwortung trägt, wäre es für viele einfacher, sich für das Kind zu entscheiden. Die Hälfte der Verantwortung, das heißt ggf. auch, dass nicht nur die Frau beruflich kürzer tritt, sondern auch der Mann. Das heißt, dass ein Kindsvater das Kind die Hälfte der Zeit betreut. Das heißt, dass ein Kindsvater die Hälfte der finanziellen Belastung trägt.

Auch die Gesellschaft darf Frauen, die (gewollt oder ungewollt) schwanger sind, nicht alleine lassen. Was bedeutet das? Es bedeutet, dass die unmittelbare Gemeinschaft bereit sein muss, Kinder mitzutragen. Kinder mitzuerziehen. Kindern einen Platz in ihrer Mitte zu geben. Ein gutes Aufwachsen von Kindern zu ermöglichen. 

Konkret: Arbeitgeber einer (alleinerziehenden) Mutter bieten nach der Elternzeit selbstverständlich eine Stelle an, wenn diese es wünscht.
Mütter werden nicht mit Erwartungen überfrachtet, die sie nicht erfüllen können.
Müttern wird ohne mit der Wimper zu zucken ein sozialversicherungspflichtiger Arbeitsplatz angeboten, sie werden nicht künstlich in 450€-Jobs gehalten, die sie abhängig von einem "Haupternährer" machen und damit vulnerabel für Altersarmut. Frauen werden selbstverständlich genau so gut bezahlt wie Männer.
KiTa-Betreuungsplätze sind kostenfrei, sind mit mehr als ausreichendem Personal ausgestattet und keine Familie wird schief angeschaut, wenn sie ihre Kinder in die KiTa gibt.
Inklusion muss elementarer Bestandteil der Gesellschaft sein. Familien mit behinderten Kindern (oder Erwachsenen) müssen wissen, dass sie ein wertvoller Teil dieser Gesellschaft sind. Das Lernen voneinander und die Verbindung zueinander soll im Vordergrund stehen.
Frauen müssen sich sicher sein, dass ein Kind nicht der Anfang vom sozialen Abstieg oder ein finanzielles Problem ist. Die Gesellschaft muss sich im Klaren sein, dass ihr Fortbestehen davon abhängt, dass Kinder geboren werden, und dass Kinder etwas kosten. Und zwar nicht nur das Individuum, sondern die ganze Gesellschaft. Und die Gesellschaft muss sich darüber im Klaren sein, dass sie da sein muss für die Menschen, die "nicht eingeplant" sind, wenn sie zu ihren humanitären Grundwerten stehen will.

Sicher ist allein dieses Thema noch komplexer. Aber vielleicht können wir endlich einmal anfangen, aufgrund des gemeinsamen Wertes "keine Frau soll in die Bedrängnis kommen, abtreiben zu müssen"  gemeinsame Lösungen zu diskutieren statt uns weiter voneinander zu entfernen durch ideelle Grabenkämpfe.

Vielleicht können sich Abtreibungsgegner und Abtreibungsbefürworter endlich einmal zusammen tun und die Wurzel des Problems anpacken.

Und wenn wir das verstanden und gelernt haben, können wir das nächste Thema angehen.